Zuschreibungen. Geschichten von Identität
Die Frage danach, »wer wir sind«, beschäftigt uns als Individuen und als Gemeinschaft seit Menschengedenken. »Derselbe« lautet die etymologische Herkunft des politisch umkämpften Schlagworts »Identität«, gemäß der ursprünglichen Definition als unveränderlicher Wesenskern einer Person. »Identität erweist sich als ein Tun, nicht als ein Ding«, schreibt hingegen der Philosoph Kwame Anthony Appiah in seinem Essay Identitäten – Die Fiktionen der Zugehörigkeit. »Und es ist das Wesen jeglichen Tuns, Veränderungen hervorzubringen.« Identitäten sind also wandelbar und müssen es sein. Sie werden prozesshaft gebildet und lebenslang im Abgleich mit unserer Umgebung nachjustiert. Sie sind immer auch Geschichten, konstruierte Narrative, die wir selbst in unserem Handeln erschaffen oder die uns von außen auferlegt oder zugeschrieben werden.
Von »Identität« im modernen Sinn spricht die Sozialpsychologie erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Mit kollektiven Kategorien wie Religion, Nationalität, Hautfarbe, Klasse, Kultur oder Geschlecht wurde immer wieder versucht, Identitäten greifbar zu machen – politische Kategorien der Zugehörigkeit oder der Abgrenzung, die unser Denken und Handeln, bewusst oder unbewusst, bis heute prägen. In den vergangenen Jahren werden diese jedoch immer kontroverser diskutiert, zeitgemäßere Begrifflichkeiten gefunden und das Auflösen feststehender Zuschreibungen vorangebracht.
Die Literatur birgt hierfür ein besonderes Potenzial: Sie vermag es, Perspektiven zu wechseln, Zuschreibungen von außen zu durchleuchten, in der Fiktion zu überzeichnen, Identitäten zu konstruieren, zu vermischen und sogar komplett aufzulösen. Wird eine Biografie erzählt, verändert sie sich, kann manipuliert werden, Leerstellen gefüllt und Unstimmigkeiten aufgeklärt oder bewusst offengelassen werden. Autor*innen können Fährten für vermeintliche autobiografische Bezüge auslegen, denen findige Rezensent*innen nach wie vor mit Freude auf dem Leim gehen, um diese dann wieder zu verwerfen.
Den wohl meistbeachteten literarischen Beitrag der jüngsten Vergangenheit im Themenfeld der Identitäten leistete Mithu M. Sanyal mit »Identitti« – einem Roman, der mit inhaltlicher Schlagkraft und wohltuendem Humor die identitätspolitischen Kontroversen unserer Zeit ausleuchtet. In einer fiktionalen Debatte finden hier zahlreiche Aspekte Platz, die einen roten Faden durch das Programm der Wuppertaler Literatur Biennale ziehen, allen voran die Tatsache, dass Fragen nach Identität stets sehr persönliche sind und daher eine enorme Angriffsfläche bieten können. Oder sie bilden einen Nährboden für konstruktiven Austausch und das Zugeständnis, jede*n selbst über die eigene Identität entscheiden zu lassen, ohne die diesjährig titelgebenden Zuschreibungen bedienen zu müssen. Wer könnte da eine bessere Patin für die Wuppertaler Literatur Biennale 2022 sein als Mithu Sanyal?
Wir freuen uns sehr, zur sechsten Wuppertaler Literatur Biennale Autor*innen in Wuppertal zu begrüßen, die sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene die Möglichkeiten des Erzählens von Identität erproben, ausreizen und neu erfinden. Sie lassen Wuppertal für eine Woche zum Spielplatz der Identitäten werden, verschiedenste Perspektiven zu Wort kommen, erzählen lange verschwiegene Geschichten, laden dazu ein, konstruktiv zu streiten, sich selbst bei alten Denkmustern zu ertappen und neue kennenzulernen. Denn all das vermag Literatur: uns fremde Welten zu eröffnen oder uns mit Bekanntem einen Spiegel vorzuhalten – und nicht zu vergessen: uns im besten Sinne zu unterhalten.
Ruth Eising, Torsten Krug, Julia Wessel, Kurator*innen der Wuppertaler Literatur Biennale 2022
mit herzlichem Dank an Gerold Theobald, Katja Schettler, Birte Fritsch, Luisa Banki, Jonathan Tschuschke, Bettina Paust und das ganze Team des Kulturbüros.